Interviews / Musik

Jules Ahoi im Interview – neues Album „DEAR _“

Nach zwei Alben und einer EP erscheint nun mit „Dear ___“ das dritte Album von Jules Ahoi, mit dem Jules zugleich einen neuen Lebensabschnitt betritt. Bereits der Opener „3 A.M.“ macht dabei klar, dass man auf dieser Platte alles andere als einen Pop-Einheitsbrei erwarten darf. Mit dem wohl persönlichsten Song, den Jules Ahoi jemals geschrieben hat, fesselt er von Sekunde eins an das Album. Er besteht aus einer einzigen Strophe, einer zutiefst emotionalen Geschichte. Der Opener „3 A.M.“ ist ein Song, der so typischerweise eher an das Ende eines Albums gestellt wird. Und doch: als Startsong der Platte steht er symbolisch für einen Neubeginn. Laut Jules ist dieser Song genauso wie das Album – anders, untypisch. Wir haben mit Jules über sein neues Album gesprochen.

Mit diesem Opener wird schnell klar, warum das Album „Dear ___“ heißt. Wie hast du zu diesem Titel gefunden?

Jules: Ich habe meinen neuen Produzenten vor anderthalb Jahren kennengelernt und wir haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden. Wir haben schnell angefangen, zusammen Musik zu machen und Songs zu schreiben. Nach einem Jahr wann dann eine Sammlung von fast dreißig Songs da. Wir saßen im Studio und haben uns die Rosinen rausgepickt. Beim Durchhören hatten wir beide Tränen in den Augen, weil es so emotional für uns war. Ich hatte die Grundstruktur des Albums im Kopf und habe das vor- und zurückgehört und dachte, dass es wie ein Brief ist. Jeder Song hat einen anderen Adressaten. Ich wollte dem Ganzen eigentlich gar keinen Titel geben bzw. nur einen Space, aber man muss ja auch nicht zu arty werden. Daher wollte ich das Album so offen wie möglich halten und es „DEAR ___“ nennen. So kann jeder den Namen des von ihm gewünschten Adressaten eintragen und so seine ganz eigene Geschichte zu dem Album erfinden.

Warum hast du dich für „3 A.M.“ als Opener entschieden, anstatt ihn an das Ende der Platte zu platzieren?

Jules: Ich war mir nicht sicher, ob ich „3 A.M.“ überhaupt auf das Album packen möchte. Er ist dann aber sogar an erster Stelle gelandet, weil es der erste Song ist, den ich mit meinem Produzenten Philipp Stephan geschrieben habe. Wir haben uns auch gedacht, dass dieser Song eigentlich ans Ende der Platte müsste bzw. uns gefragt, was man überhaupt mit so einem Song macht, der eigentlich kein Song ist. Aber dieser Song ist genauso wie das Album – es ist anders, so etwas bleibt offen. Man hat die Strophe, die etwas erzählt und dann am Ende die Explosion, die quasi alles dahin macht, was vorher aufgebaut wurde. Vielleicht ist das auch so mit dem Rest des Albums, es ist untypisch.

Auch das Musikvideo dazu ist sehr ausdrucksstark und untermalt den intimen, emotionalen Touch des Songs.

Jules: Wenn es eine Sache gibt, auf die ich stolz bin, dann ist es dieses Video. So ein Video habe ich ehrlich gesagt noch nicht zu einem Song gesehen. Es ist eigentlich auch kein Musikvideo, sondern eher ein Kurzfilm. Das Konzept für dieses Video haben Freunde von mir für mich erarbeitet. Als sie mir die Rohversion davon gezeigt haben, war ich kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Ich war sowas von berührt.

So ruhig Der Opener „3 A.M.“ startet, so laut endet er in einer Explosion, einer Art Erlösung, um mit frischer Energie in einen neuen Lebensabschnitt zu starten. Schließlich schmiegt sich das Ende des Songs in perfekter Symbiose an den Folgetrack „Oh, Agnes“ an, der Geschlechterrollen thematisiert. Gab es einen bestimmten Auslöser für diesen Song?

Jules: Es gab keinen konkreten Moment, in dem ich dachte, ich muss darüber einen Song schreiben. Es ist eher so ein Gefühl, das sich seit Jahren in mir aufstaut. In dem Song „Oh, Agnes“ geht es zwar auch um Geschlechterrollen, aber vor allem um Erziehung. Wie die Erziehung, die wir als Kinder genießen, Auswirkungen auf unser späteres Leben hat und wie wir dementsprechend mit Geschlechterrollen umgehen. Dieses Thema beschäftigt mich, seitdem ich Kind bin. Ich habe nie so richtig den Kanal gefunden, wie ich das thematisieren kann bzw. habe mich auf eine Art und Weise auch nicht richtig getraut. Vielleicht war der Moment noch nicht da oder ich hatte noch nicht das Sprachrohr dafür. Und mit diesem Song habe ich das erste Mal für mich entschieden, dass ich mit diesem Song genau das sagen kann, was ich möchte. „Oh, Agnes“ ist einer meiner Lieblingssongs auf der Platte und der wichtigste Song auf dem Album.

Mit knapp 30 Jahren hast du zum ersten Mal in deinem Leben das Gefühl, angekommen zu sein. Was war dafür ausschlaggebend?

Jules: Ich bin das erste Mal in meinem Leben an einem Ort glücklich. Ich war unterwegs, habe meine Heimat, mein Zuhause gesucht, den Ort, an den ich gehöre, an dem ich mich wohlfühle. Den habe ich zum ersten Mal gefunden. Das ist jetzt gerade in Köln und ich bin super zufrieden, hier zu sein. Ich verbinde das erste Mal Glück mit einem Ort. Das Gefühl ist sehr besonders und das habe ich in meinem bisherigen Leben so noch nicht gespürt.
Mein großes Ziel war immer, in Frankreich zu wohnen. Durch ein paar sehr schöne Zufälle hat es dann auf einmal so funktioniert, wie ich es mir immer erträumt habe und ich hatte plötzlich die Möglichkeit dazu. Ich habe knapp drei Jahre dort gewohnt, aber nach kurzer Zeit gemerkt, dass mir etwas fehlt. Was es letztendlich war, kann ich nur vermuten. Ob es meine Freunde in Deutschland waren oder die Möglichkeit, Musik auf unkomplizierten Weg zu machen. Dort war ein Gig immer mit einer 12-stündigen Zugreise verbunden. Ich konnte aus meinem Wohnzimmerfenster heraus auf die Düne schauen und das Meer war 30 Sekunden fußläufig entfernt, aber ich war nicht glücklich. Das war für mich krass, weil mein Traum, den ich so viele Jahre verfolgt habe, in dem Moment total geplatzt ist. Ich habe mich gefragt, warum das so ist und habe gemerkt, dass es der Ort sein muss. Ich musste wieder zurück. Ich fahre schon noch immer dorthin und gehe surfen und hänge da auch lange rum, aber wohnen möchte ich dort nicht.

Dein Fokus hat sich in den letzten Jahren also vom Surfen auf die Musik verschoben. Das scheint aktuell genau das Richtige für Dich zu sein?

Jules: Voll. Ab einem gewissen Punkt muss man sich mal zurücklehnen, reflektieren und schauen, was sein essentieller Traum ist. Ich mache Musik, seitdem ich sechs bin. Für mich ist es ganz normal, Musik zu machen und für mich stand nie irgendetwas anderes zur Debatte. Ich habe vieles anderes ausprobiert: ich habe in der Werkstatt gearbeitet, ich habe studiert und bin letztendlich zu dem Entschluss gekommen, dass ich mich wieder zurückbesinnen muss auf meinen ursprünglichen Fokus Musik. Ich bin der festen Überzeugung, dass, wenn man den essentiellen Traum in sich findet und wirklich alles daran setzt, diesen Traum zu leben und dieses kleine Fünkchen verfolgt, dann geht gar kein anderer Weg am Erfolg vorbei. Und was ist Erfolg? Wenn man seinen Traum lebt und einfach das tut, was einen glücklich macht, kann man viele Abstriche machen.

Mit deiner Musik hast du das Genre „Saltwater Folk“ geprägt, doch auf dem neuen Album „Dear ___“ kann man auch experimentellere Parts raushören. Du verwendest Skits, Auto-Tune-Parts oder R’n’B-Sounds, die doch eher mit Hip Hop assoziiert werden. Du warst früher auch Rapper und hast als Support für Blumentopf gespielt – kommen daher diese Einflüsse?

Jules: Ja, das stimmt. Während ich dieses Album geschrieben habe, habe ich mich extrem viel mit mir selbst beschäftigt: mit meiner Persönlichkeit und wie diese Persönlichkeit entstanden ist. Da geht wohl oder übel kein Weg daran vorbei, dass ich auch drei Alben als Rapper gemacht habe und im Grunde meine ganze Jugend Konzerte als Rapper gespielt habe. Ich habe zwar irgendwann damit aufgehört und bin komplett auf diese Folk-Richtung umgeschwenkt. Im Entstehungsprozess zu diesem Album habe ich nochmal zurückgeblickt und gemerkt, dass es trotzdem ein großer Teil von mir und meiner Jugend ist und es hat mich mit Sicherheit auch zu dem Menschen geformt, der ich jetzt bin. Auf diesem Album habe ich versucht, meine zwei Künstlerpersönlichkeiten miteinander zu vereinbaren. Und so sind auf diesem Album Einflüsse verschiedener Genres gelandet: viel aus Hip Hop, viel aus Folk und daraus entstanden ist eine Art Alternative Pop.

Wie beeinflusst die aktuelle Situation und das „Zuhausesein-Müssen“ Deinen kreativen Schaffensprozess?

Jules: Ich bin schon wieder fleißig am Schreiben. Ich schreibe mir einfach alles aus der Seele, deswegen gibt es keinen Moment, in dem ich nicht produktiv bin. Auf der anderen Seite ist so ein Release auch mit sehr viel Arbeit verbunden. Man gibt Interviews, man pusht die Facebook- oder Instagram-Seite. Es gibt unfassbar viele Dinge zu tun, das mag man gar nicht glauben. Ich habe mich im letzten Jahr entschieden, das nicht aus der Hand zu geben, sondern mein eigenes Label zu (MOON BLVD. Records). Ich kann mich also nicht darüber beklagen, dass ich zu wenig zu tun hätte, eher im Gegenteil.

Durch die aktuelle Situation werden so einige geplante Releases verschoben, sei es aus produktionstechnischen oder strategischen Gründen. Ihr habt euch entschieden, „DEAR ___“ trotzdem am 12. Juni zu veröffentlichen. Stand auch die Überlegung im Raum, den Release zu verschieben?

Jules: Ja, wir haben darüber nachgedacht, uns aber relativ schnell davon verabschiedet. Die Leute hören ja trotzdem Musik. Ich fühle mich immer wie so ein Schwamm, der alles aufsaugt, was um ihn herum passiert. Diese Situation jetzt gerade birgt eigentlich auch den Hauch einer Chance, eine sehr intensive und besondere Situation aufzunehmen und zu beobachten, wie sich Kunst oder Musik entwickelt, wie das alles passiert und funktioniert. Deswegen wollte ich den Release nicht verschieben und am 12. Juni schauen, was passiert. Ich finde es super interessant, Künstler in dieser Zeit zu sein.

Eben – wenn nun alle Albumreleases verschoben werden würden, wäre der musikalische Sommer tot!

Jules: Wir sehen uns jetzt quasi als Retter des Sommers!

Wir sagen Danke für die Rettung unserer Sommer mit dieser sehr persönlichen und tollen Platte, für das Interview und wünschen einen Happy Release Day!

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Jules Ahoi in Echt (Pop-Up Store Tour):
12.06.2020 Köln
16.06.2020 München
18.06.2020 Leipzig
19.06.2020 Berlin
20.06.2020 Rostock
22.06.2020 Hamburg
23.06.2020 Münster

// Text: Sarah Grodd //
// Bild: Matthias Wagner //