„Boris Johnson is a dickhead“ – Interview mit Loyle Carner
Wir haben unseren Festivalkoffer gepackt! Mit im Gepäck waren unsere Radio Z-Kollegen Tommy & Brit. Unser Ziel: das Haldern Pop Festival und ein Interview mit Loyle Carner.
Benjamin Coyle-Larner, besser bekannt als Loyle Carner, ist aktuell einer der vielversprechendsten Acts des britischen Hip-Hop. Seit seinem 2017er Debütalbum „Yesterday’s Gone“ ist viel passiert – erfolgreiche Touren mit Joey Bada$$, Kate Tempest und Atmosphere und Nominierungen für den Mercury Price und die Brit Awards. Vor seinem Auftritt auf dem Haldern Pop Festival sprachen wir mit Carner u.a. über sein neues Album „Not Waving, But Drowning“ und Boris Johnson.
Namensgebend für “Not Waving, But Drowning“ ist ein Gedicht der britischen Poetin Stevie Smith, in dem ein Mann ertrinkt, weil sein Armerudern als Winken mißinterpretiert wird. Titel wie auch Gedicht stehen sinnbildlich für eine Gesellschaft, in der zunächst alles in Ordnung erscheint, bei genauerem Hinsehen jedoch bröckelt. Pikanter Titel, da Loyle Carner als Londoner und bekennender Boris Johnson-Ablehner doch mitten im brodelnden Brexit-Kessel sitzt. Nicht nur die Gesellschaft betreffend – dieses Sinnbild bezieht er auch auf sich selbst. Der steigende Druck mit wachsendem Erfolg lässt ihn auch manchmal fühlen, als würde er ertrinken.
“Not Waving, But Drowning“ ist generell ein sehr persönliches Werk und Carner jemand, der auf Gefühle und autobiografische Geschichten in seinen Lyrics setzt. Dabei ist es nicht immer einfach für ihn, sein Privatleben auf diese Weise einer großen Masse zu offenbaren. Doch Musik zu machen, die eine persönliche Distanz zu seinem Leben wahrt, kommt für ihn schlicht nicht in Frage. So erklärt er im Intro zum neuen Album “Dear Jean” seiner Mutter auf eine sehr vorsichtige Weise, dass er sich verliebt hat und ausziehen wird:
Dear Jean
Oh, I hope this doesn’t come as a surprise, ha
Oh, but I’ve fallen for a woman from the skies
Oh, and she be truer than the lies
Truer than the prize […]
Oh, but listen, I ain’t moving out as such
Just moving half my clothes, maybe louder stuff
Out the south, out the house, never out of touch
Trust, I don’t think I said it loud enough
I’m out the south, out the house, never out of touch […]
Die Antwort darauf bekommt Carner im Outro “Dear Ben” von seiner Mutter höchstpersönlich eingesungen:
And now it’s as clear to me my beautiful boy
as naked as the joy that caresses the creases of your eye
that you’ve finally found your one
your golden snitch
and my task is done
For I’ve gained a daughter
I’ve not lost a son
Den Vorwurf, Loyle Carner würde eher Poesie und Indie-Musik denn Hip Hop machen, lässt er abprallen. Er selbst sieht sich technisch ganz klar als Rapper. Dass nun ausgerechnet ein Gedicht als Albumtitel herhält, zeigt jedoch die Nähe zwischen Poesie und Rap. Dabei liegen die Ursprünge des Hip Hop laut Carner tatsächlich in der Poesie:
The last poems were the first rappers: they´re speaking poetry and rhythm over drum beats. So for me it´s poetry and also early forms of rap.
Ganz egal, ob man ihn in die Schublade Concious Rap, Alternative Hip Hop oder Indie Rap stecken will: Mit seinem Mix aus Old School Hip Hop-Elementen und anspruchsvoller, authentischer Lyrik hat er große Verehrer sowohl in der Rap- wie auch in der Alternative-Szene. Und so schafft er es auch auf die großen Bühnen von Indie-Festivals wie dem Haldern Pop Festival. Dieser Genre-Spagat ermöglicht ihm die Zusammenarbeit mit Künstlern, die ihm als “klassischer” Rapper” verwehrt geblieben wäre. So finden sich auf dem neuen Album u.a. Gastbeiträge von Tom Misch, Jorja Smith und Sampha.
Kate Tempest, Sampha, Young Fathers, Sleaford Mods – es so viele verschiedene britische Künstler unterschiedlicher Genres, die doch in einem vereint sind: die aktuelle Situation mit dem Brexit sorgt für einen kreativen Schub in der englischen Musikszene. Kreativität entsteht für Carner immer aus einer Traurigkeit und Wut heraus. In einem Land wie Schweden, wo alles glücklich und friedlich zu sein scheint, kann man laut Carner nur wenig kreativ sein:
Sweden is the most happy place ever in the world they say, but in a place where things are bad and not working, that´s were music and creativity sparks. Sadly for Boris Johnson I think he´s done good for the music community.
Doch anstatt mit Wut auf die Situation in Großbritannien zu reagieren und somit am Ende keinen Sieger hervorzubringen, möchte er mit Leidenschaft in seiner Musik reagieren und versuchen, die Beweggründe der Akteure zu verstehen. So könnte laut Carner wahrscheinlich auch Boris Johnson Gründe für sein Handeln haben, und seien es nur Drogen. Da ist nur es wenig verwunderlich, dass auch während seines Auftritts auf dem Haldern Pop Festival hier und da einige Kommentare zu Boris Johnson fallen:
There´s only one thing I love about England: my mum. Fuck Brexit. And fuck Boris Johnson.
// Text: Sarah Grodd //
// Bild: Charlie Cummings //