Konzertbericht: Kosmos Chemnitz / Kosmonaut-Festival 2019
#wirbleibenmehr und God save the Rave.
Seit vergangenem Jahr kämpft die Stadt Chemnitz in Sachsen um ihren Ruf, nachdem es zu fremdenfeindlichen Übergriffen kam und generell das Thema Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern schwierig ist. Mit dem Kosmos Chemnitz – #wirbleibenmehr zeigte Chemnitz ein weiteres Mal, dass sie eine weltoffene, tolerante und friedliche Stadt ist. Bereits im vergangenen Jahr sind 65.000 Menschen aus ganz Deutschland dem Aufruf gefolgt, in die sächsische Stadt zu kommen um ein Zeichen zu setzen, auch ich war dabei und konnte mich überzeugen, dass Chemnitz noch nicht „Komplett im Arsch“ ist.
Mit etwas mehr Vorlaufzeit für die Planung gab es dieses Jahr den Nachfolger, der mit ausgereiftem Sicherheitskonzept und über 40 Spielstätten in der Stadt daher kam. Etwa 50.000 Menschen kamen, viele kombinierten es auch gleich mit dem Besuch des Kosmonaut-Festivals an den folgenden Tagen gleich um die Ecke am Stausee Rabenstein.
Es kommt nicht von ungefähr, dass beide Veranstaltungen aufs selbe Wochenende fallen, hat doch eine der besten Bands, die Chemnitz zu bieten, hat Ihre Finger bei der Planung mit im Spiel. Kraftklubs „Heimfestival“ findet seit 2013 statt und überrascht jedes Jahr mit einem geheimen Headliner, der bis zum Schluss Top Secret ist, auch das durfte ich mir nicht entgehen lassen, also beides kombiniert und ab dafür.
Angekommen in Chemnitz gleich Richtung #wirbleibenmehr Bühne zu Grossstadtgeflüster. Jede Band hatte schmale 30 Minuten um ein kleines Set zu präsentieren, Hauptfokus lag bei der Berliner Electropop klar auf der Fickt-Euch-Allee, deutlichen Ansagen gegen Fremdenfeindlichkeit und einem kleinen Ausblick auf das kommende Album mit dem bisher unveröffentlichtem Track „Meine Couch“. Mein Fazit: Freut euch aufs neue Album, wird geil!
Tocotronic spielte anschließend u.a. politisch demonstrativ „Aber hier leben, Nein Danke!“ sowie „Hey Du“und „Macht es nicht selbst“ und sorgten für mächtig Stimmung im Publikum.
Der nächste Bitte: Alligatoah, der samt Band (inkl. Schlagzeuger mit Fuß im Gips!) im wunderschönsten Senf-Gelb auf der Bühne stand und zeitweise auch von Felix Kummer (Kraftklub) für den Song „Beinebrechen“ unterstützt, erneut Abriss und Moshpits im Publikum, aber alles friedlich und freundlich.
Jetzt war die Hauptbühne gänzlich voll und da ich mich selten weit bewegt habe, außer vom Getränkestand und zurück nach vorn, hab ich davon nur noch ein paar Momentaufnahmen im Kopf. Zwischenzeitlich hatte ich auch ein paar nette Leute zum Bier trinken gefunden und einen wirklich netten Konzertabend gehabt, inklusive Döner-Empfehlung für den Heimweg. Doch der Headliner kam noch: Herbert Grönemeyer – solide Show, das Publikum nun vom Altersschnitt her deutlich gemischter, jedoch tat dies der Stimmung keinen Abbruch, denn, wenn wir ehrlich sind, wir können bestimmt alle das ein oder andere Lied mitsingen.
Nun kann also auch Herr Grönemeyer auf meiner musikalischen Bucketlist gestrichen werden. Doch da ahnte ich noch nicht was Tags drauf noch folgte. Wie genau ich anschließend zu meiner Unterkunft gelangt bin, kein Plan…
Neuer Tag, neues Glück – mit dem „Spaceshuttle“, dass zwischen Rabenstein und dem Chemnitzer Hauptbahnhof pendelte, ging es zum Kosmonaut-Festival. Mit 16.000 Besuchern eher eine entspannte Größe, die mir persönlich sehr zusagt. Ein liebevoll gestaltetes Festivalgelände direkt an einem Stausee, zwei große Bühnen und ein paar kleinere dazwischen die mit DJs oder Herzblatt-Shows glänzten.
Machen wir’s kurz: Erster Act – Alli Neumann – lässig, kräftig & rotzig. Ihr Alternativer Pop erinnert mich dezent an eine Mischung aus Nena und Falco, macht richtig Laune, auch schon Nachmittags. Solltet ihr die Gelegenheit haben, Sie live zu sehen (zum Beispiel beim Nürnberg Pop Festival 2019) solltet ihr das auf jeden Fall mitnehmen.
Nächstes Highlight auf der Bühne Nura, Berliner Rapperin aus Kuwait. Bühnendeko: Ein riesiger Reisepass („Ich bin Schwarz“) und ein Lit-O-Meter.
(Zweit-)Beste Show des Tages, zum Song „Sativa“ holte Sie sich einfach mal eine Frau mit Joint auf die Bühne und statt sich im Hintergrund zu halten, mischte eben jene die Show kräftig auf, schnappte sich einfach Mal das Mikro, übernahm den Gesang für Nura oder tanzte gekonnt mit der Rapperin oder den Background-Tänzern und zog das bis zum Schluss des Auftritts durch. Ich glaube jeder hat es hart gefeiert und das Lit-O-Meter schlug aufs Äußerste aus. Ich hab es selten gesehen, dass sich Fans, die auf die Bühne geholt werden, so gut in die Show integriert haben, Respekt auch an Nura, die das Beste draus machte.
Leoniden folgten und nutzten bereits den Aufbau und Soundcheck um das Publikum auf Temperatur zu bringen. Später holten Sie noch Blond und Nura für einen Song auf die Bühne und treffen scheinbar exakt den Geschmack des Publikums, Stimmung: mega!
Und dann kam Bosse: gewohnt locker flitzte er auf der Bühne von links nach rechts, vorn & hinten und machte auch kurz halt im Publikum und lies sich zurück auf die Bühne tragen. Ich mag Bosse wirklich sehr, aber seine Songs sind oft sehr melancholisch und für meine Festivalstimmungskurve eher ein kleiner Abturner nach Leoniden. Doch dann war ja noch die spannende Frage: Wer ist der geheime Headliner des Kosmonaut 2019?
Mein Tipp war Feine Sahne Fischfilet, sollten Sie am Folgetag doch ein Konzert im 80 Kilometer entfernten Dresden spielen, doch das wurde verletzungsbedingt abgesagt. Tja, war wohl nix. Jetzt hoffte ich eigentlich nur, dass es kein Hip Hop Act a la Orsons war – und das war es definitiv nicht. Nur 4,3% der Wettbüro-Stimmen reichten gerade so für die Top Ten, aber geglaubt hat es wahrscheinlich bis zum Schluss keiner.
Für den Umbau und die Spannung gab es drei dicke schwarze Vorhänge damit auch niemand irgendwas sieht, dann: Stage-Time.
Kraftklub treten vor den schwarzen Vorhang und verkünden, sie hätten es selber nie geglaubt, dass diese Band jemals beim Kosmonaut Festival auftreten würde und wer jetzt nicht tanzt, der hat Popmusik nicht verstanden.
Spannungslevel 1.000!
Der Vorhang fällt, der Bass dröhnt, Tänzer mit wehenden Fahnen betreten die Bühne, das Logo der Flaggen: Ein Megaphon.
Scooter! FUCKING Scooter waren der geheime Headliner. H.P. Baxxter lies die Menge mit jede Menge Feuer und choreografierten Tanz und drückendem Bass schier ausrasten, natürlich gab es auch ein paar irritierte Gesichter, die scheinbar in Ihrer Hipsterwelt von Scooter noch nie gehört hatten. Ich bin mit Scooter groß geworden und auch wenn ich es mittlerweile nicht mehr höre, fand ich es grandios – nächster Punkt auf der musikalischen Bucketlist abgehakt. Abzüge gibt’s für den teilweise unerträglich übersteuernden Bass und den nicht mehr zeitgemäßen Sexismus auf der Bühne, aber Scooter kommt nun mal aus einer anderen Zeit, in der leicht bekleidete Tänzerinnen auf der Bühne als Normalität angesehen wurde.
Letzte Amtshandlung: Ein Scooter Shirt vom Merch Stand abgreifen und ab zur Unterkunft.
Dicke Empfehlung fürs nächste Jahr: Kosmos & Kosmonaut!
P.S.: Den Shuttlebus zurück nach Chemnitz musste ich gar nicht mehr nehmen, hatte ich doch seit den Leoniden zwei coole Mädels neben mir, die mich netterweise nach Chemnitz mitgenommen haben. DANKE.
Chemnitz, eine weltoffene und friedliche Stadt, die man nicht auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus reduzieren sollte.
/Bilder & Text: André Prager/