Live / REIN & RAUS

Nachbericht: Sophie Hunger schlimmer als Schlager?

Intelligent, komplex, raffiniert, hochbegabt, bezaubernd, niveauvolle Musik. All diese Attribute werden gerne in den Raum geworfen, sobald Musikkritiker und Journalisten den Sophie Hunger-Komplex sezieren. Doch die Parallelen zum Frühlingsfest der Volksmusik sind nicht weit. Das Lido in Berlin war in vorderster Front mit fünfundvierzig-plus Besuchern gefüllt, die auf schwarzen Quadraten hockten und in philosophischer Pose still und größtenteils rotationslos den Liedern von Frau Hunger lauschten. Man mag sich fragen, wo hier die vermeintlichen Parallelen gezogen werden sollen, schließlich schunkelt man in der Welt des TV-Schlagers und sitzt nicht nur still auf einem Würfel, außerdem sprechen wir von einer viel älteren Altersklasse im Farbfernsehen. Doch es gibt da eine unterschwellige Ebene welche nicht sofort optisch in Erscheinung tritt.

13147823_1194562817241657_7571074722188599666_o

Konformismus lautet das Trauerwort. Sophie Hunger ist sicherlich nicht schlecht, aber ihr eine imaginäre Krone zur Absolution zu erteilen, ist vielleicht ein Hauch zu viel Liebe. Ihr Publikum gleicht einer Horde Ameisen, welche ehrfürchtig vor der Ameisenkönigen niederkniet und zeitgleich in melancholischen Versen von Frau Hunger versumpft. Kurz vor dem Konzert gab es sogar noch eine Durchsage, das bitte alle Smartphones in den Flugmodus abtauchen sollen um einen intimes und ungestörtes Konzerterlebnis zu garantieren. Irgendwie war diese Anmerkung für das Publikum obsolet, da die Zuschauer eh relativ schwermütig verwurzelt waren. Es ist einerseits ‚,krass’’ das Konzert zu verunglimpfen, doch es ist auch sehr leicht sich einzelne Segmente in Erinnerungen zu rufen, bei denen man sich nicht sicher war, ob man vielleicht nicht einem verbitterten Mann mit einer Flasche Wein und einem altbewährten Chanson vor dem Kamin beiwohnt, während dieser demütig die Gedanken kreisen lässt und sich gehoben räuspert.

13147740_1194562820574990_4156924833640381783_o

Vielleicht wünsche ich (Geburtsjahr:1992) mir aber auch einfach nur von der neun Jahre älteren Sophie Hunger (1983), dass sie noch mal mehr Krach, Lärm und Rabaukentum auslebt. Radiohead oder Portishead ähnliche Semi-Depri-Zyklen kann man später noch zu genüge von sich geben, oder? Vielleicht auch nicht. Sophie Hunger meinte an dem Abend, dass man oft ,,wir’’ sagt, obwohl man eigentlich ,,ich’’ meint. Ich denke man kann das ,,wir’’ nicht nur übergeordnet drüberstülpen, wobei eigentlich ein singulärer Gedanke eines Individuums gemeint ist. Sondern man kann sich hinter dem ,,wir’’ auch verstecken, um keine eigene Ansicht zu vertreten. Ich finde wir sollten uns nicht verstecken und wir sollten auch nicht zu viel Melancholie, Ambivalenz und Hoffnungslosigkeit in kreativen Prozessen überwiegen lassen, denn wenn ich diese Sehnsucht verspüre, dann schalte ich die Tagesthemen ein.

13131120_1194562823908323_7698475372442944592_o

sophiehunger.com

xjazz.net

lido-berlin.de

/ Text: Leo Zimmermann / Bilder: XJazz-Festival FB /